Das folgende Gespräch mit Serafina Moncada haben wir im November 2007 in der Ludoteca Comunale di Palermo aufgezeichnet. Die Ludoteca ist ein Ort, an den Kinder aus der ganzen Stadt zum Spielen kommen können. Sie befindet sich in einem Häuschen im Park an der Piazza Marina, umgeben von gigantischen Gummibäumen.
"Ich habe vor 20 Jahren angefangen. Wie alle Jugendlichen wollte ich die Welt verändern - oder wenigstens verbessern. Das hat sich bei mir nicht geändert. Aber ich sehe das heute mit anderen Augen: In dem Sinn, dass die Dinge sich nur langsam verändern lassen, mit der Zeit; dass man die anderen verstehen muss, das Warum. Vor allem habe ich versucht, die politischen Zusammenhänge zu verstehen. Als Jugendliche hat es mir gereicht, zu spielen, es mir und den Kindern gut gehen zu lassen. Aber so einfach ist es nicht und ich wollte verstehen, was hinter der Politik steckt. Wie ist das ZEN in Palermo entstanden? Ein armes Viertel mit baufälligen Sozialwohnungen, absichtlichem Leerstand, abgeschnittenen Straßen. Dahinter steht eine Politik und wenn ich im ZEN arbeite, dann muss ich auch diese Politik verstehen. Ob wir wollen oder nicht, wir machen Politik. Im sozialen Bereich arbeiten heißt Politik machen, Werte vermitteln, die 'legalità', die Rechtmäßigkeit entwickeln. Wenn ich Dir beibringe, dass etwas ein gemeinsames Gut ist, also für alle da ist, dann ist das Politik, 'legalità'.
Wir sind jetzt eine Frauenkooperative: Ich bin Präsidentin, Vizepräsident ist eine Frau, Aufsichtsrat ist auch eine Frau. Wir sind eine Sozialkooperative und existieren seit 23 Jahren. Wir bevorzugen Frauen, aber wir nehmen auch Männer auf. Mit unseren Aktivitäten haben wir uns zuerst an Erwachsene gerichtet: zur Bewältigung von Problemen durch psychische Abhängigkeit und zur Prävention haben wir Animation und Betreuung angeboten. Wir haben im Malaspina gearbeitet, dem Gefängnis für Jugendliche.
Es gibt viele gefährdete Quartiere in Palermo, nicht nur das ZEN, das eben bekannt ist, Brancacio, Burgonuovo, Setteganoli, Lacalzo - es gibt viele gefährdete Viertel. Wir haben angefangen, Straßenspektakel zu machen. Dann wurde uns klar, dass wir bei den Kindern beginnen müssen.
Mit der Zeit haben wir auch eine persönliche Entwicklung gemacht. Als langfristigstes Projekt haben wir diese Ludoteca. Sie existiert jetzt seit 10 Jahren an diesem Ort. Die erste Finanzierung haben wir über ein europäisches Projekt zur Restrukturierung des städtischen Raums bekommen. Vorher waren hier Prostituierte, Spritzen, es war eine völlig aufgegebene Ecke. Als dann Kinder aus anderen Vierteln hierher kamen, haben sie von den Kindern hier Prügel abbekommen. Die wollten uns hier nicht haben. Wir waren Fremde für sie. Es war wie Indianer und Cowboys - der Kampf um das Territorium. Die ersten 5 Jahre waren unheimlich schwierig. Aber wir haben gearbeitet. Wir haben uns vernetzt mit verschieden Institutionen. Wenn also ein Mädchen oder ein Junge Probleme hat, dann bin ich damit nicht alleine, sondern wir arbeiten zusammen daran.
Das Gute an dieser Ludoteca ist, dass wir dafür gekämpft haben, dass sie nicht nur für das Quartier ist, sondern kommunal, also für die ganze Stadt. Denn von der erzieherischen Seite her ist es wichtig, dass ein Kind mit anderen konfrontiert wird, die eben nicht gleich sind. Ein Kind, das in der Stadt wohlbehütet aufwächst, kommt gar nicht auf die Straße. Die Gesellschaft ist komplett gespalten. Ein solches Kind kann nicht einfach frei zum Spielen gehen. Die Kinder aus diesem Viertel dagegen lernen nicht, aber sie sind frei. Auch im negativen Sinn: Keiner kontrolliert sie, anfangs waren sie 8 Stunden in der Ludoteca - wir hatten früher länger und an mehr Tagen offen. Also waren sie den ganzen Tag hier, haben hier gegessen, gebadet, sich im Brunnen gewaschen. Später haben wir dann gemeinsam mit Sozialarbeitern und den Schulen gearbeitet und einige Fortschritte gemacht. Also, an einem Sonntag zum Beispiel kommen 100 Kinder aus der ganzen Stadt in die Ludoteca.
In der letzten Zeit ist das hier eine neutrale Zone geworden. Die Jugendlichen kennen uns, schätzen und vertrauen uns, weil wir eben seit 10 Jahren dafür kämpfen, hier zu sein: mitunter auch mit 8- oder 9-monatigen Volontariaten, unbezahlt. Es ist eben kein Projekt für ein oder zwei Monate, das danach wieder verschwindet. Sie vertrauen uns und wir sind ein Bezugspunkt für sie geworden. Die Betreuer wechseln natürlich, denn Geld haben wir wenig. Ich würde gerne allen eine Arbeit geben, den Frauen, den Männern und sie gut bezahlen. Aber die Kommune verpflichtet mich, an Ausschreibungen teilzunehmen und gibt uns fürchterlich wenig Geld. Also kann ich meinen BetreuerInnen nur wenig zahlen - Männer und Frauen bekommen gleich viel - aber eben wenig für alle, auch für mich. Deswegen arbeite ich auch nicht nur hier. Ich habe noch 4 andere Jobs. Ich unterrichte an der Uni in Rechtswissenschaft, ich kümmere mich um Jugendliche aus gewalttätigem Umfeld in einem Weglaufhaus. Also Betreuung von Kindern und Frauen, eigentlich bin ich 'Animatrice' (Spieltherapeutin) und Erzieherin.
Eine 'Animatrice' benutzt als Mittel Spiele: Tischspiele, freie Spiele, Töpferei. Alle Spiele wecken die Kreativität der Menschen und ich versuche, ihnen damit ein bisschen zu helfen. Auch mit Musik. Und mit Rücksicht auf den Kontext: Hier bin ich 'Ludotecaria' und setze als Methode das Spielen ein. In dem Weglaufhaus ist es anders. Je nach den Bedürfnissen der Kinder und Frauen: Wenn sie kochen wollen, kochen wir, an anderen Tagen besprechen wir mit allen zusammen ein Problem. Ich biete Aktivitäten zur Sexualerziehung an, darüber, sich zu berühren. Denn Kinder aus gewalttätigem Umfeld ertragen keinen physischen Kontakt. Wir arbeiten am Verständnis einer Sexualität, die oft verkrüppelt ist: Die Frau ist schwach, mein Vater vergewaltigt sie. Er schlägt meine Mutter, also ist meine Mutter schwach, alle Frauen sind dumm. Das ist so ein Beispiel. Wir sind also schwach, weil der Vater es uns so demonstriert. Wir versuchen also, den Jungen zu vermitteln, dass Frauen Rechte haben, dass die Mutter nicht schwach ist, sondern Probleme hatte, ebenso der Vater. Und du hast die Wahl. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Nicht nur die Gewalt. Und du, Kind, kannst wählen. Es gibt andere Modi zu leben. Wenn ich an Ohrfeigen gewöhnt bin, habe ich nicht gelernt, zärtlich zu sein. Ich muss die Zärtlichkeit noch entdecken. Wir versuchen, Ihnen die anderen Wege zu zeigen, zu diskutieren. Denn die meisten sind aggressiv. Wir haben hier vulgäre Gesten und Wortgefechte gehabt. Die verbale Gewalt ist gestiegen, gerade bei den Mädchen. Die Jungen gehen nach der Mittelschule arbeiten, als Barmann, Bäcker. Die Frauen werden schwanger und bekommen Kinder: 'la fuitina'. Mit 12, 13 Jahren spielen sie nicht mehr. Sie kommen nicht mehr hierher, sondern bringen ihre Kinder zu uns.
Also die Einflussmöglichkeiten liegen mehr bei den Jungen, weil sie rausgehen können. Mädchen dürfen, sobald ihr Menstruationszyklus beginnt, nicht mehr aus dem Haus. Gleichheit gibt es nicht. Aber nicht weil die Männer böse wären, sondern weil viele Männer in bestimmten Bereichen voreingenommen sind.
Und das Schlimme ist: Die schlimmsten Feinde der Frauen sind die Frauen. Denn wir selbst beurteilen die anderen Frauen stärker als die Männer. Ich spreche nicht von der Arbeit, von den Chefs, Banken oder Unis. Ich spreche von der sozialen Umgebung. Wir sind sehr kritisch mit anderen Frauen: Wenn du als Mutter deinem Kind nicht die Brust gibst, bist du keine Mutter. Wenn du nicht kochen kannst, bist du keine Mutter. Wenn, wenn... Also weisen wir uns selbst diese einengenden Rollen zu. In Sizilien ist es so.
Die Organisation des Haushalts hängt an mir. Ich hasse Unordnung, mein Mann hat damit kein Problem. Also muss ich die stinkenden Socken wegwerfen. Aber wenn die Schwiegermutter kommt oder eine andere Frau, kritisiert sie mich für den Strumpf, der irgendwo herumliegt. Auch wenn ihn die Socke nicht stört, aber du, Frau, kannst das Haus nicht ordentlich putzen.
Auf der anderen Seite können Frauen auch nur von Frauen Hilfe erwarten. Sie spüren die Notwendigkeit, anderen zu geben: Wenn du Kinder hast, dann kümmert sich die Oma, nicht der Opa. Der Opa geht mit den Kindern raus, aber die Großmutter betreut sie. Die Rollen sind immer getrennt. Viele Frauen könnten ohne diese Unterstützung weder anderen helfen, noch arbeiten, sie müssten zuhause bleiben. Es ist also die gegenseitige Hilfe unter Frauen, die uns ermöglicht, mehr Freiheit zu haben.
In Palermo ein Geschäft oder eine Kooperative zu haben, ist schwierig. Wir sind prekär geworden. Die Kooperative ist eine Option, eine Art zu leben. Das Zusammensein, gemeinsame Projekte zu haben, sich nerven, streiten, die Dinge durchzustehen. Aber es ist auch nicht leicht, weil du nicht viel verdienst."
"Wie viele Personen arbeiten in der Ludoteca?"
"Wir sind 8, die sich abwechseln."
"Sind das alle 'soci' (Mitglieder)?"
"Nein. Um 'socio' einer Kooperative von 20 Jahren zu werden - das ist sehr kompliziert, weil wir eine so lange Geschichte haben. Wer neu dazukommt, kann nur entweder mit dieser schwierigen Geschichte leben, oder versteht es einfach nicht. Denn er hat es nicht erlebt. Wenn wir neue Mitglieder aufnehmen, dann müssen sie sich die Geschichte erstmal erobern. Auch die Aufnahme in eine Genossenschaft sollte eine Eroberung des Vertrauens sein und des an die Sache Glaubens. Wenn nicht, bringt das nichts. Dann wird man Mitglied nur wegen des Geldes. So wie bei vielen Kooperativen, die nur gegründet wurden und weiter existieren wegen des Geldes.
In all den Jahren auf diesem Weg sind einige 'soci' andere Wege gegangen. Wir haben nie jemanden rausgeworfen. Die Leute sind gegangen, weil sie mit etwas nicht einverstanden waren. Und andererseits sind wir auch erwachsen geworden - 20 Jahre sind schon eine Zeit. Also, je mehr Leute, desto komplizierter ist es. Und je älter man wird, ich bin 43, desto bewusster wird man mit den Entscheidungen. Es ist nicht wie mit 20, man kann die Arbeit und die Methode nicht mehr aufs Spiel setzen, in dem Sinn, nur zu reden und zu diskutieren und nichts zu erreichen. Wir sind zu dritt, aber es ist nicht gesagt, dass wir nicht eines Tages mehr werden. Es ist auch erst seit kurzem, dass wir nur 3 sind. Aber das ist auch eine Entscheidung: Wir 3 Frauen leiten die Kooperative, weil wir es anders nicht schaffen würden, die Dinge voranzutreiben. Das ist eben die Wahrheit. Aber ich hätte gerne, dass wir 30 wären, oder 40, aber das schaffen wir nicht.
Als Kooperative haben wir uns jetzt für ein konfisziertes Grundstück beworben, das der Mafia weggenommen wurde. Heute hatten wir gerade ein Treffen und es gibt einen Haufen Probleme. Erstmal kennt niemand die Gesetze richtig. Da gibt es also viel Unwissen und dann übernimmt der Staat auch keine Garantien. Du bekommst also ein 'bene' (ein 'Gut', also ein Grundstück oder Haus) aber es gibt keine rechtlichen Möglichkeiten, dass ich dir finanziell helfe, um dieses Haus oder Grundstück zu übernehmen, und darauf ein Projekt zu entwickeln. Heute waren Leute da, die erzählten, dass sie 2 Jahre gewartet haben, bis eine Wasserleitung angeschlossen wurde. Solange wurden sie mit Tricks hingehalten, der Anschluss sei nicht zu finden und sie sagen dir nicht, wo sie sind. Und warum? Tja...
Oder auf dem Haus sind Schulden, es ist belastet. Du weißt davon nichts, sie geben dir ein 'bene' als Komplettpaket. Damit du es in einen ordentlichen Zustand versetzen kannst, um dort zu arbeiten, sollten sie dir einen Sack Geld geben, das 'bene' ist ja nicht deins: ich hab' es nur für 6 Jahre."
"Also das konfiszierte 'bene' wird nicht für 30 Jahre übertragen?"
"Gerade wird das im Gesetz frei gegeben. Einige bekommen es für 10 Jahre. Alles läuft unter Diskretion auf Kommunalebene. Die Kommunen sind noch nicht mal verpflichtet, eine öffentliche Ausschreibung zu machen."
"Es muss keinen Wettbewerb geben?"
"Nein. Ich komm' also zu Dir: "Hallo, wie geht's, alter Freund...? Gibst Du mir ein 'bene'?""
"Selbstverständlich, bitte, bitte... " (lachen)
"Ich wurde geboren, da war die Mafia schon da. Meine Familie war nicht in der Lage, dagegen zu kämpfen. Meine Familie ... das war in einer Zeit, als die DC alles in der Hand hatte. Ich komme aus Bagheria, ein Dorf, etwa 20 Kilometer von hier, wo es einige bekannte Mafiosi gab. Als ich groß wurde, konnte ich mich in Bagheria nicht entwickeln. Ich konnte nicht kämpfen, weil ich eine Familie im Rücken hatte, die noch nicht dazu bereit war. Als nach Palermo kam, bin ich auf eine Gruppe von Leuten gestoßen, die mich dazu gebracht haben, nachzudenken und zu begreifen, dass man mit dieser Arbeit einen Wandel herbeiführen kann. Das wurde dann eine größere Sache, als es eine Art Revolution gab. Als Falcone ermordet wurde, da erwachte das Bewusstsein von ganz Palermo. Es waren zu krasse Geschehnisse. Aber das eigentliche Problem ist, dass die Mafia in unseren Köpfen steckt. Wenn ich in der Schlange stehen muss, in der Post oder in der Bank, und ich hab da einen Freund, dann steh' ich nicht in der Schlange. Weil es die Idioten sind, die in der Schlange stehen. Ich geh' zu meinem Freund. Es ist genau dasselbe, wenn ich als Verein oder Kooperative ein Projekt präsentieren muss, dann gibt es da jemand anderen, der zu dir kommt und sagt, was dabei herauszukommen hat. Und das wissen wir alle. Es ist ein Krieg, auch unter den Armen... Warum gibt es die Mafia? Weil wir über so viele Jahre hinweg vom Staat verlassen waren. Eine Misere. Die Mafia gab Arbeit. Nicht die Freiheit, denn es war unterbezahlt, aber sie gaben Arbeit. Wenn der Staat diese Rolle nicht übernimmt, wird die Mafia nicht sterben. Aber die Mafia verändert sich, entwickelt sich. Sie ist nicht stärker als der Staat, aber sie schafft es, sich schneller zu verändern. Das ist das Problem. Aber ich arbeite für die 'legalità', wenn ich einem Kind sage: Nein, du wirfst das Papier nicht weg, du sollst nicht aggressiv sein und Lampen kaputtmachen. Weil andere dafür Steuern zahlen. Es geht um die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft; nicht um Krieg im öffentlichen Raum. Einem Staat anzugehören heißt, dass alles auch mir gehört. Und deshalb geht es nicht nur um mein Haus, sondern die Stadt ist mein Haus. Kultur heißt nicht Essen und du sagst mir, was dein Essen ist. Kultur ist, wenn ich mit dir rede und du mit mir. Es ist gegenseitig. Es ist nicht nötig, dass ich dich verstehe, aber ich muss mit dir teilen, mit dir reden, auch wenn du nicht mit mir einverstanden bist. Und es geht nicht darum, dass ich schöner, mutiger oder intelligenter bin als andere. Ich hatte die Möglichkeit, mit der Kooperative, in den Treffen mit vielen Menschen, die mich unterstützt haben, nicht, besser zu sein, aber einen Weg zu bahnen, eine Wahl zu treffen. Und ich fühle mich nicht als Heroin. Heroen sterben. Ich möchte nicht sterben. (lacht)
Denn wenn Du den Helden gibst, stirbst Du. Ich möchte ganz normal in meiner Stadt leben... Ich bin Serafina.
Mit der Zeit gibt es eine gewisse Reife, aber die Motivation bleibt. Bei der Arbeit gibt es sowohl für die anderen als auch für uns die Notwendigkeit zu verdienen, aber immer mit einem Bewusstsein für die Kooperation, das Zusammenarbeiten, dass wir unsere eigenen Chefs sind, also verantwortlich sind für unsere eigene Arbeit. Und ich erwarte nicht, dass jemand mir von oben etwas gibt. Ich schaffe mir meine Arbeit. Das ist mühselig, aber auch schöner. Ich fühle mich reich und frei. Aber arm."